Eine aktuelle oder kontroverse Frage, 3x aus verschiedenen Blickwinkeln behandelt. Das ist “3-Satz! Angefragt” – auf den Punkt, schnell orientiert, zur eigenständigen Vertiefung empfohlen!
Gefragt sind: Claire Horst, freie Journalistin, Schreibpädagogin und Bildungsreferentin (Schwerpunkte Diversity, Social Justice, Diskriminierungssensibles Schreiben), Hermann Groß (Dipl.-Pol., Dipl-Psych.), stellv. Rektor und Fachbereichsleiter Verwaltung der Hessischen Hochschule für Polizei und Verwaltung. Seine Forschungsschwerpunkte liegen neben der empirischen Polizeiforschung und Polizeipsychologie in der politischen Systemlehre sowie Prof. Dr. Stefan Piasecki, Dozent für Handlungsfelder der Sozialen Arbeit und Medienpädagogik an der CVJM-Hochschule in Kassel. Jugendmedienschutzprüfer bei der FSK und der FSF.
„Suizide und auch erweiterte Suizide, die leider auch zunächst Unbeteiligte einbeziehen, stellen die Öffentlichkeit vor große Schwierigkeiten: Sollen oder müssen Selbsttötungen medial thematisiert werden, auch auf die Gefahr hin, dass sie Nachahmer anziehen?“
Claire Horst: Spätestens seit dem europaweiten Erfolg von Goethes Briefroman „Die Leiden des jungen Werth
ers“ ist der nach dem Helden benannte Effekt bekannt: Damals hatte die Erzählung vom Suizid aus Liebe zu Nachahmungen in ganz Europa geführt, nachgewiesen sind sie zumindest in zweistelliger Zahl. Schon damals versuchte man, den Werther-Effekt einzudämmen: In einigen Städten wie Leipzig und Mailand war der Verkauf des Buches – und sogar das Tragen von Kleidung im Werther-Stil – zeitweilig verboten.
Was heißt das aber heute für Journalistinnen und Journalisten? Was bedeutet es für Angehörige von suizidgefährdeten Jugendlichen? Dass Berichte über Selbsttötungen zu erhöhten Suizidraten führen, ist auch in der jüngeren Vergangenheit erforscht und nachgewiesen, etwa im Falle der Tode von Marilyn Monroe oder von Robert Enke. Müssen Medien, müssen Eltern Kinder vor solchen Texten schützen? Müssen wir über eine aktualisierte Variante des Verkaufsverbots diskutieren?
Zunächst zur Rolle der Medien: Sie befinden sich in einem Dilemma. Einerseits ist es ihre Aufgabe, die Öffentlichkeit über das aktuelle Geschehen zu informieren – und nicht nur Fakten zu vermitteln, sondern dies auch unterhaltend, bildhaft, anschaulich zu tun. Zumindest gilt dieser Auftrag dann, wenn das Geschehen von öffentlichem Interesse ist – wie etwa im Fall des Suizids einer prominenten Person, oder dann, wenn der Suizid Folgen hat, die auch andere Menschen betreffen. Das gilt etwa für Selbstmordattentate, denen Unbeteiligte zum Opfer gefallen sind.
Im Prinzip würde es ausreichen, die Regeln einzuhalten, die im Pressekodex festgeschrieben sind. In der Richtlinie 8.7 heißt es: „Die Berichterstattung über Selbsttötung gebietet Zurückhaltung. Dies gilt insbesondere für die Nennung von Namen, die Veröffentlichung von Fotos und die Schilderung näherer Begleitumstände.“
Denn, auch das zeigen Studien, eine detaillierte Beschreibung regt besonders zur Nachahmung an. Das bedeutet: keine einfühlsame Beschreibung des Vorgehens, keine mitleidige Einfühlung in die Person. Keine Spekulationen über Motive, kein Gemunkel über die Unausweichlichkeit oder Nachvollziehbarkeit der Tat. Der Suizid sollte – auch wenn das im Widerspruch zu dem steht, was auf der Journalistenschule gelehrt wird – möglichst nüchtern geschildert und keinesfalls romantisiert werden. Denn zu groß ist sonst die Gefahr, dass LeserInnen sich darin wiederfinden würden.
Das heißt also: Berichterstattung ja – wenn es der Information dient und von allgemeinem Interesse ist. Berichterstattung aber nur in abstrahierter Form und ohne Details. Suizide können dann – statt an die Sensationsgier zu appellieren – sogar zur Auseinandersetzung mit dem Thema Depression anregen. Ganz vorbildlich verfuhr kürzlich „Die Zeit“ in ihrer Berichterstattung zum Selbstmord des Schauspielers Horst Keitel und seiner Frau: Statt sensationsheischender Bilder und Beschreibungen druckte sie Informationen zum Werther-Effekt und Telefonnummern von Beratungsstellen für Betroffene und Angehörige ab. (http://www.zeit.de/kultur/film/2015-11/horst-keitel-suizid-schauspieler-ehepaar) Diese können Berichte dann womöglich sogar nutzen, um mit ihren Kindern ins Gespräch zu kommen.
Hermann Groß: Der Werther-Effekt steht für die erste durch ein Massenmedium hervorgerufene Suizidwelle in Europa. Dem Vorbild des „Helden“ aus dem Roman „Die Leiden des jungen Werther“ von Johann Wolfgang von Goethe folgten 1774/75 als Nachahmer des aus Liebeskummer ausgelösten Suizids viele (insbesondere junge) Männer in den Tod.
Vor allem den visuellen Medien wird bei der Darstellung von Suiziden ein ähnlicher Effekt zugeschrieben. Bestes Beispiel hierfür ist der 1981 im ZDF ausgestrahlte Fernsehfilm „Tod eines Schülers“, der zu vermehrten Eisenbahnsuiziden geführt hat, womit auch die Tatbegehung imitiert worden war. Selbstverpflichtungen der Medien, die eine zurückhaltende Berichterstattung bei Suiziden und insbesondere bei den genauen Tatumständen fordern, konnten Nachahmereffekte nicht vollständig verhindern. Dies gilt umso mehr, wenn es sich um prominente Suizidenten handelt, wie der Fall des Fußballspielers Robert Enke belegt.
Damit stellt sich für alle Medien und die Gesellschaft die Frage, ob und wie über Suizide berichtet werden soll? Eine vergleichbare Problematik stellt sich auch bei der Berichterstattung über Amokläufe an Schulen, wobei aufgrund der „öffentlichen Tat“ eine Unterdrückung der Berichterstattung nur sehr begrenzt möglich ist.
Unmöglich wird eine Eingrenzung gar bei sozialen Medien wie Facebook, Twitter oder Whatsapp, da sich die Verbreitung von Informationen nicht mehr steuern lässt. Effekte von Massenmedien – auch im Bereich von Suiziden – dürften heutzutage gegenüber sozialen Medien stark rückläufig sein.
Aus fachpsychologischer Sicht müsste in jeglicher Berichterstattung über Suizide der Zusammenhang mit Hintergrundfaktoren wie Depression oder Substanzmissbrauch im Vordergrund stehen. Verharmlosende Begriffe wie „Selbsttötung“ oder „Freitod“, die nur für die Tabuisierung von Suiziden in unserer Gesellschaft stehen, hätten darin keinen Platz mehr. Vor allem mit einer verbesserten Depressionsprophylaxe und –therapie konnte die Zahl der Suizide in Deutschland seit den 1980er Jahren stark reduziert werden, nicht mit einer „zurückhaltenden Berichterstattung“ in den Medien.
Eine Enttabuisierung von Suiziden und eine Aufklärung über deren Hintergründe würde sicherlich nicht alle Nachahmertaten verhindern, ihre Zahl aber vermindern und im Gegenteil für viele Suizidgefährdete eine Möglichkeit eröffnen, sich in professionelle Hände zu begeben. Um das Beispiel von Robert Enke nochmal aufzugreifen: Der offene Umgang seiner Witwe mit dem Suizid hat sicherlich zu einer Enttabuisierung von Suiziden in Deutschland beigetragen, wobei die Prominenz des Opfers eine hohe Aufmerksamkeit garantierte. Dieses Beispiel sollten sich auch Massemedien zu Herzen nehmen!
Stefan Piasecki:
Selbstmorde von Menschen geschehen aus den unterschiedlichsten Motiven heraus; häufig liegen depressive Erkrankungen zugrunde oder es spielen Einsamkeit, enttäuschte oder unmögliche Liebesverhältnisse und damit Perspektivlosigkeit eine große Rolle und es sind Überforderung, Schulden oder Sucht so schwerwiegende Belastungen des Lebens, dass nur die Beendigung dessen als Ausweg erscheint. Fast immer lassen die Geschehnisse das nähere und weitere Umfeld rat- und fassungslos zurück. Hinterbliebene fragen sich, was sie hätten tun können, ob sie selbst nicht eine Rolle gespielt haben. Ob sie gar Schuld sind. Medien als Inhaltevermittler oder Kommunikationsagenturen werden vorschnell für „schlechte Einflüsse“ verantwortlich gemacht.
In der Jugend- oder Sozialarbeit gibt es gute Chancen, durch das Aufmerksamwerden auf Äußerungen von Betroffenen oder Indizien wie Verhaltensänderungen auf psychische Veränderungen aufmerksam zu werden.
Besonders schwierig sind gemeinsam verabredete Selbstmorde über soziale Netzwerke zu bemerken, sog. Internetsuizide. Ein solcher Fall hatte sich Anfang 2014 in der Nähe von Kassel ereignet. Drei jungen Frauen aus ganz Deutschland hatten sich in einer Campinghütte am Edersee getroffen und waren dort gemeinsam gestorben.
Wenn Menschen krank sind oder sich beginnen zurückzuziehen, wird dies vom Umfeld häufig bemerkt. Gleichwohl können über soziale Netzwerke Kontakte weiterhin aufrecht erhalten werden und es sind auch bei einem verringerten persönlichen Kontakt Stimmungsänderungen etwa in einer ungewohnten Wortwahl oder einem veränderten Textumfang als sonst und der Gesamtqualität von Nachrichten wie auch der Responsivität der Kontaktpartner zu bemerken – antworten sie verzögerter, später oder tagelang gar nicht? Wird in negativ gefärbten Kommentaren plötzlich Bezug genommen auf Menschen, die dem Umfeld zuvor unbekannt waren? Wird von Selbstverletzungen gesprochen oder einer Situation, die alsbald beendet werden soll?
Es gibt keinen typischen suizidalen Menschen. Gerade deshalb ist es wichtig, die selbst gewählte oder auferlegte Isolation zu durchbrechen und mit Betroffenen aktiv ins Gespräch zu kommen. Jugend- und Sozialarbeiter, dies gilt ebenso für Personen, die mit älteren Menschen befasst sind, verfügen häufig über neutrale und somit authentische Zugangsmöglichkeiten zu Betroffenen.
Anzeichen für mögliche Suizidneigungen wie Rückzüge oder entsprechende Andeutungen müssen ernst genommen und können auch in Chatforen aufgegriffen und angesprochen werden. Bereits die Weitergabe des Kontakts zu einer Selbsthilfegruppe oder der Hinweis auf die Telefonseelsorge kann Menschen helfen, deren Denken und Weltsicht bereits eingeengt sind.
Ein wünschenswerter Fortschritt wäre ein Alarm- oder Hilfebutton, der aus bekannten Chatforen oder von Internetseiten auf Direkhilfemöglichkeiten verlinkt. Auch wenn dies nicht permanent möglich ist, mag wenigstens die temporäre Verfügbarkeit in bestimmten Zeiträumen (Nachts, an Wochenenden) hilfreich sein.
Anlässe zu einem offenen Umgang mit dem schwierigen Thema auch für die klassische Jugendarbeit bietet beispielsweise der „Welttag der Suizidprävention“, der jährlich am 10. September begangen wird.