Gastbeitrag von Tobias Faix: „Denn wir wissen, was gut für dich ist.“ Nudging und Evangelisation – Mit sanftem Schubs ins ewige Leben?“
Können oder müssen wir Menschen zu ihrem Glück verhelfen? Oder politisch korrekt gefragt: Sollen Menschen zu mehr Verantwortung und Moral erzogen werden? Oder christlich gefragt: Brauchen manche Menschen einen sanften Schubs, um das ewige Leben zu bekommen?
Aber der Reihe nach, es geht um den in den letzten Jahren gleichermaßen populären wie umstrittenen Begriff ‚Nudge’ oder ‚Nudging’. Mein Kollege aus der Medienpädagogik Stefan Piasecki brachte mich auf dieses interessante Konzept und als Theologe habe ich mich natürlich gleich gefragt, was dies für die Bereiche Mission und Evangelisation bedeuten kann. Der Begriff ‚Nudge’ wurde 2008 von einem amerikanischen Autorenduo Richard Thaler und Cass Sunstein eingeführt und stammt ursprünglich aus der Verhaltensökonomik. Es geht darum, wie man kluge Entscheidungen anstoßen oder beeinflussen kann, ohne dabei auf Verbote und Gebote zurückgreifen zu müssen. Eines der berühmtesten Bilder und Beispiele dabei ist die „Fliege im Urinal“: Wird in Urinalen ein Abbild einer Fliege angebracht, landet 80 % weniger Urin auf dem Boden, da die Männer auf die Fliege zielen. In den USA und England schon länger offiziell in Politik und Wirtschaft eingeführt, ist das Vorgehen in Deutschland weiter umstritten, weil zwar kaum jemand zweifelt, dass es in Werbung und Politik eingesetzt wird, aber die Frage, wie manipulativ man sein darf, ist nach wie vor nicht geklärt.
Lucia Reisch, Professorin an der Copenhagen Business School, versucht eine Definition, die der Zielgruppe genügend Freiraum zur eigenen Entscheidung gibt, wenn sie sagt: „Ein Nudge ist etwas, das erstens Aufmerksamkeit erregt und zweitens das Verhalten von Menschen in vorhersagbarer Weise verändern kann, ohne Handlungsoptionen auszuschließen“. Dabei geht die Meinung auseinander und die Grenze zwischen Professionalität auf der einen Seite und Manipulation auf der anderen sind fließend und oftmals schwer zu unterscheiden. Und es ist wohl keine Frage, dass es auch immer auf das inhaltliche Ziel des ‚Nudging’ ankommt. Geht es um Themen, die man selbst wichtig findet, die ins eigene Weltbild passen und vielleicht auch noch eigene Vorteile bringen, dann spricht man gerne von einem professionellen Vorgehen. So wird ‚Nudging’ eher bei Themen wie Umweltschutz, Organspenderausweisen oder Müllvermeidung toleriert als bei ökonomisch ausgerichteten Werbeveranstaltungen oder politischen Parteien (so hat Merkel bspw. seit Ende 2014 drei ‚Nudging-Experten’ in ihrem Team).
Steht man auf der anderen Seite, ist sozusagen Zielgruppe und stimmt nicht mit dem Ziel und dem Weltbild überein, redet man schnell von Psychotricks und geheimen Verführern, immer nach dem Motto: Denn wir wissen, was gut für dich ist. Aber warum funktioniert das so gut und erfolgreich? Mein Kollege weist dabei auf das menschliche Bedürfnis nach Zugehörigkeit hin: ‚Nudges’ hilft den Menschen sich zugehörig zu fühlen, einem Trend, einer Bewegung, einem Ziel. Trotz der immer wieder betonten individuellen Unabhängigkeit, fällen viele Menschen ihre Entscheidung nach wie vor an Vorbildern und dem Verhalten der Masse. Ich gehöre zum sozialen Umfeld dazu (peer support bzw. negativ: peer pressure). Also, dann doch alles gut? Oder wie immer, alles eine Frage der Differenzierung: Gutes ‚Nudging’ via schlechtes ‚Nudging’? Bisher gibt es recht wenig Studien zu dem Thema und die Zauberwörter für gutes ‚Nudging’ heißen: Entscheidungsfreiheit und Transparenz. Diese stellen eine Art Mindeststandard dar und die Erfahrung, dass das Treffen von Entscheidungen ohne genaue Sachkenntnis und aus Emotionen heraus nie eine gute Entscheidungsbasis bietet, gehört hier sicherlich auch dazu. Dies ist ein guter Anfang, wobei ich denke, dass uns das Thema in der Zukunft mehr beschäftigen wird.
Aber führen wir das ethische Dilemma noch weiter in den christlichen Bereich fort: Geht Evangelisation und ‚Nudging’ zusammen? Sollen oder müssen wir gar Menschen zu ihrem ewigen Leben ‚schubsen’? Zum ersten Mal damit in Berührung gekommen bin ich schon vor über 20 Jahren, als ein Mann am Mischpult bei einer großen Evangelisationsveranstaltung meinte, dass 10% der heutigen Bekehrungen „auf sein Konto gehen“, je nachdem, wie er die Musik abmische und so die Atmosphäre und Emotionen im Raum steuere. Mir war das eher unheimlich, aber das Thema begleitete mich ständig und die Fragen, die jetzt durch das Thema ‚Nudging’ aufkommen, veranschaulichen dies und machen es für mich noch besser greifbar. Natürlich erwarte ich von einer evangelistischen Veranstaltung Professionalität durch eine theologisch und rhetorisch gut vorgetragene Predigt, ansprechende Musik, angenehme Moderation und kreative Elemente und natürlich soll all dies ‚menschliche’ es dem Heiligen Geist ‚so leicht wie möglich machen’ an den Menschen zu wirken, wie es so schön heißt. Aber wo ist es eine Einladung und wo wird versucht, das Verhalten von Menschen in vorhersagbarer Weise zu steuern? Vielleicht zu ihrem eigenen Glück zu manipulieren? Wo übernehmen wir Menschen hier die Aufgabe des Heiligen Geistes, obwohl dies weder sinnvoll noch nachhaltig ist?
Der ehemalige Evangelist Torsten Hebel beschreibt seine Gefühle dabei folgendermaßen: „Mit der Zeit wurde mir immer unwohler. Das, was ich von Herzen wollte und glaubte, konnte ich nicht mehr ruhigen Gewissens tun, denn irgendwie empfand ich das Ganze als manipulativ. Junge Menschen wurden in einer aufgeheizten Stimmung und mit guter Rhetorik dazu aufgefordert, in einem zeitlich verdichteten Moment eine Entscheidung von immenser Tragweite zu treffen.“ (Freischimmer, 53) Was für Torsten Hebel zu einem Ausstieg aus der Evangelistentätigkeit führte, ist für andere normal und richtig. Und klar, ein evangelistisches ‚Nudging’ soll werbend helfen, dass Menschen die richtige Entscheidung für ihr Leben treffen. Und wenn wir nach ethischen Hilfestellungen suchen, dann werden wir tatsächlich schnell fündig in dem gemeinsamen Ethikcode „Christliches Zeugnis in einer multireligiösen Welt“, der gemeinsam von evangelischen (und evangelikalen) und katholischen Missionswerken erarbeitet wurde. Dort steht unter Punkt sechs folgendes: „Wenn Christen/innen bei der Ausübung ihrer Mission zu unangemessenen Methoden wie Täuschung und Zwangsmitteln greifen, verraten sie das Evangelium und können anderen Leid zufügen. Über solche Verirrungen muss Buße getan werden und sie erinnern uns daran, dass wir fortlaufend auf Gottes Gnade angewiesen sind (vgl. Römer 3,23).“
Hier wird zumindest eine klare Grenze gezogen, die jegliche Manipulation verurteilt. Evangelisation darf, ja soll werbend, aber niemals manipulativ sein. Da diese Pole in der Praxis aber fließend sind und von verschiedenen Persönlichkeiten und Frömmigkeitsstilen unterschiedlich wahrgenommen werden, ist eine Diskussion über ‚Nudging’ sehr hilfreich, da es genau versucht diese „fließenden Grenzen“ zu beschreiben. Denn eines ist bei ‚Nudging’ klar, es wird sehr bewusst eingesetzt um Menschen zu lenken und zu verändern und das hat in der Theologie seine Grenze, denn Gottes Geist weht wo er will!
Quellen: